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Autor:Meister, Derek
Titel:Rungholts Ehre
Verfasserangabe:Derek Meister
Erschienen:München : Mosaik bei Goldmann, 2010. - BUCH
ISBN13:978-3-442-37484-7
Standort:Z02 Meis
Annotation:Niemand bemerkte die Leiche. Der Tote trieb stromabwärts. Er glitt langsam den Fluss hinab, trieb seicht dahin. Äste, Abfall und die stinkende Beize der Gerber umspülten den leblosen Körper. Doch der Tote schob sich hindurch, schob sich durch den Dreck und die übel riechende Brühe des Lübecker Hafens. Er glitt durch all dies, als würde er schweben. Schwerelos. Die Augen starr gen Himmel, den Mund geöffnet. Das zerschlagene Gesicht umspült von den Wellen des Flusses. Der Tote glitt dahin. Er glitt vorbei an den schlanken Booten der Wakenitzschiffer, die im Seichten dümpelten. Vorbei an der Stadtmauer, die mit ihrem Wehrgang weit sichtbar war. Er glitt an einem befestigten Stadttor entlang und erreichte den Seehafen. Die Kräne des Kais zeichneten sich im Morgendunst ab. Schemenhaft. Stakend hielten sie ihre Ausleger über den Fluss. Der Mann schwamm unter ihnen hindurch und an nassen Lumpen vorüber, an Obst, das Kinder in die Trave geschmissen hatten und an zerschlagenen Fässern einer unliebsamen Fracht. Niemand sah den Toten. Es war noch vor der Morgenmesse. Die Prim hatte erst begonnen und Lübeck, die Königin der Hanse, das Zentrum des Ostseehandels, ruhte noch an diesem kalten Morgen 1390. Das klare Wetter drückte die Kälte in die Gassen. Der Himmel war beinahe weiß, nur einzelne Eiswolken zeichneten sich wie flüchtig hingeworfen ab und spiegelten sich matt im Wasser, bevor der Mann sie auf seinem Weg durchschnitt. Die Stadt lag auf einem sanften Hügel. Während sich im Süden die Trave und die Wakenitz trafen, schmiegten sich die beiden Flüsse im Norden nur aneinander und ließen eine natürliche Landzunge zwischen sich. Die beiden Flüsse machten Lübeck uneinnehmbar und die Trave war Lübecks Händlern das Tor zur Ostsee und damit zu Reichtum und Macht. Bald würde das Wasser salziger, das sanfte Schaukeln des Flusses zur gefährlichen Strömung werden. Sie würde den Körper an Travemünde vorbei, hinaus auf das offene Meer tragen. In die Ostsee. Möglicherweise würde der Mann jenem Weg gen Osten folgen, den die Kaufleute in ihren Koggen Jahr für Jahr nahmen. Von Lübeck die Trave hinauf in die Ostsee, dann weiter bis nach Schonen. Oder der blutige Körper würde gar der starken Ostsströmung folgen und bis ins Russenland getragen werden. Der Tote war dem Fluss ausgeliefert. Wie ein Federkiel im Wasser Tinte verliert, so sickerte aus seinem eingeschlagenen Schädel Blut. Wieder und wieder wurde sein Kopf unter die Oberfläche gedrückt. Das schwere Blut zeichnete tanzende Fäden ins brackige Wasser und spielte mit seinem dunklen Haar. Es zeichnete eine Art stetig wechselnde Landkarte ins Travewasser. Ein flüchtiges, fragiles Gespinst aus verästelten Adern. Wege und Kanäle aus dunklem Rot, die die sanfte Strömung verwischte. Beinahe lautlos rieb der Körper am Bauch einer Kogge entlang und verfing sich im freistehenden Ruderbalken. Der Weg des Toten fand ein jähes Ende. Mit einem entsetzlichen Krachen drückte das Schiff den Mann gegen die Holzpfeiler des Kais. Wieder und wieder ließ die Kogge in ihrem scheinbar sanften Pendeln die Knochen des Fremden brechen. Über der Trave lag morgendlicher Septembernebel. Die Ostsee war fern. Der Schmerz verebbte. Er hörte nicht abrupt auf, er verging nur langsam. Sickernd. Wie das Wasser bei Ebbe kaum sichtbar weicht, so zog sich kaum merklich Rungholts Schmerz zurück. Sammelt sich der Schmerz wie das Wasser? Verschwindet das grässliche Wasser mit den Gezeiten oder gibt es dort draußen im Meer einen Berg aus Wasser? Und sammelt sich der Schmerz ebenso, wenn er verebbt? Bildet er einen See aus Schmerz, in dem sich aller Schmerz vereint, um bei der nächsten Sturmflut nur machtvoller zurückzukehren? Rungholt versuchte, die Gedanken an den Schmerz abzuschütteln. Es gelang nicht. "Rungholt?" Jemand rief nach ihm, doch Rungholt drehte sich nicht um. Verkniffen starrte er auf die Beplankung der Möwe. Zwanghaft konzentrierte er sich auf die m

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